Davor Lubicic
- unbetitelt -
07.10. - 07.11.21
Eröffnungsrede von Yala Spiegel
Wir möchten gemeinsam die erste Ausstellung von Davor Ljubičić im Kunstverein Nürtingen eröffnen, die keinen Titel trägt, was, wie ich später noch genauer erläutern werde, ganz bewusst vom Künstler initiiert ist, den ich Ihnen heute Abend vorstellen darf.
Davor Ljubičić ist Künstler durch und durch. Dabei lässt er sich nicht gerne in Schubladen stecken, denkt nicht in Kategorien, orientiert sich nicht an den Regeln, die für ein gewisses Genre gelten. Eigentlich ist er alles: Performance- und Videokünstler, Zeichner, Maler, Installateur, Krieger gegen das Blatt Papier. Er verfolgt hierbei ein differenziertes und doch einheitliches künstlerisches Konzept.
Was beim ersten Betreten dieses Ausstellungsraumes ins Auge fällt, ist die Tatsache, dass wir es nicht mit einer klassischen Hängung und nicht mit klassischen Papierarbeiten zu tun haben. Auch lassen sich die großformatigen Arbeiten zunächst nicht wirklich einordnen. Schwarz, dunkel, fast bedrohlich hängen einige der Papierbahnen von der Decke während andere sich monumental an die Wände des Raumes schmiegen.
Die drei großen Werke, die radikal und minimalistisch mit Klammern und Schnüren an der Decke aufgehängt sind, entfalten ihre ganze Wirkung erst beim Umgehen. Die bogenartigen Papiere beweisen sich als doppelseitig bearbeitete Werke, die uns somit mehrere Punkte des Zugangs gewähren. Der klassische Dualismus zwischen Vorder- und Rückseite wird von Davor Ljubičić entkräftet, aufgehoben, hinters Licht geführt. Nicht länger beweist sich das Werk als ein klassisch Zweidimensionales, sondern gewinnt an Körperlichkeit. Beide Seiten tragen ihren Teil zur Werkkonstitution bei.
Wenn wir den Raum etwas länger auf uns wirken lassen, wird deutlich, dass wir es mit einer raumgreifenden, raumeinnehmenden, raumgestaltenden Gesamtinstallation zu tun haben. Die Arbeiten Davors nehmen Bezug aufeinander, bekommen eine so vereinnahmende Präsenz, dass sie fast wie Lebewesen im Raum schweben. Wenn Sie ganz genau hinsehen, schwingen die riesigen Bahnen analog zu uns, die wir den Raum mit Leben füllen, uns bewegen, atmen, Luft in Wirbel versetzen und das Werk selbst zur Bewegung bringen. Mehr oder weniger werden wir somit Teil der ausgestellten Werke, treten in Interaktion und gestalten mit.
Jene Bewegung schlägt sich aber auch auf der Oberfläche der Arbeiten nieder, bringt sie erst zur Gestalt. Die Arbeitsweise des Künstlers als sinnstiftend für das Werk, schreibt sich in Form von Kohleschlieren und Farbklecksen auf das Papier ein. Bewegung und Gesten verdichten den Bildraum, jene Momente, die sich einer figürlichen Zuschreibung entziehen und doch eine Realität, Haptik, Körperlichkeit besitzen. Davor Ljubičić unterstreicht die Wichtigkeit des Entstehungsprozesses, die körperliche und künstlerische Erfahrung, sowie die generelle und nie endende Prozesshaftigkeit seines gesamten Schaffens.
Dabei entstehen die Arbeiten nicht rein intuitiv. Davor sagt, die Ideen sind immer da, nur sind sie nicht klar definiert. Es gibt ein Kopfbild, eine Vorstellung, die aber nicht statisch ist, sondern sich auf ihrem Weg hin zur Realisierung verändern kann. Die Prozesse, die Technik, das Entstehen und die Methode sollen dabei sichtbar bleiben, nachvollziehbar sein und von uns als Betrachtende reflektiert werden.
Der Künstler spricht weiter von der Dynamik der Überarbeitung und dem Wachstum einzelner Werke. Immer wieder rektifiziert Davor Ljubičić seine Arbeiten. Das bedeutet, dass er bestehenden Werken, die er selbst als Artefakte bezeichnet, neues Leben gibt. Dieses geht aber unmittelbar mit dem Alten einher, sodass beide Dimensionen miteinander verschmelzen, eine neue Realität bekommen, die aber durch ein absolutes Gleichgewicht zwischen schon Bestehendem und Neuem funktioniert. Der Künstler gibt seinen Artefakten somit eine neue Schicht, eine weitere Nuance, die sie vollkommen macht. Diese Vollkommenheit besteht jedoch wieder nur für den Moment, so lange, bis ein weiterer Schritt der Umformung, Berichtigung und Entzerrung notwendig scheint.
Auch in unserer hier unbetitelten Ausstellung in Nürtingen finden wir solche rektifizierten Werke. Auf der Außenseite der von der Decke hängenden Papierbahnen können wir neuste Arbeiten aus den Jahren 2020 und 2021 betrachten, während sich die Innenseiten als ältere Zeichnungen herausstellen, die der Künstler bewusst und gewollt in einen neuen komplexen Kontext stellt.
Wie kommen die Arbeiten einer solchen Größe und Dynamik zustande? Wie werden sie hergestellt, welche Materialien und welche Technik betrachten wir hier? Beim näheren Herantreten und dem Studieren der Bildoberflächen werden wir der unterschiedlichen Texturen gewahr, die sich einschreiben. Schwarze, bröselige, spröde und staubende Kohle zieht dunkle Bahnen auf den Papieren, verdichtet sich zu fast räumlichen Gebilden, die eine eigene Existenz bekommen, während sich ölige Flecken und zum Teil sogar farbige Flächen ausmachen lassen, die in einen harmonischen Kontrast mit der dunklen Nichtfarbe treten. Das Papier weist dabei teilweise kleine Narben auf, die oberste Schicht ist aufgerissen, verletzt, offenbart seine unbehandelte und pure Oberflächenstruktur.
„Ich attackiere das Bild, ich schmeichle ihm nicht.“, sagt Davor Ljubičić selbst, als er mit mir über die Entstehung seiner Werke spricht. Die Farbe frisst sich durch das Papier, kämpft gegen die weiße, unberührte Fläche und wird somit selbst zum Werk. Davor arbeitet mit dem ganzen Körper gegen das Bild, setzt seine körpereigene Energie gewollt ein, um gegen das Papier vorzugehen. Die Hände werden dick mit Kohle eingerieben, die Ölfarbe zum Teil auf den Untergrund geworfen, die riesigen Papierbahnen legt er dabei mal auf den Boden, mal hängt er sie an die Wand, steigt auf eine Leiter und bringt sein Idee, das Kopfbild, gefährlich auf einem Bein kippelnd und in der Luft zu Ende. Sein Schaffen ergibt sich aus einer inneren Notwendigkeit, einem Drang, dem sich der Künstler nicht entziehen kann und der sich in seinen ausdrucksstarken Arbeiten niederschlägt.
Ich möchte an dieser Stelle gerne einen kleinen Exkurs mit Ihnen unternehmen und Sie, zumindest gedanklich, mit in das Atelier des Künstlers entführen, da ich der Meinung bin, dass besonders hier seine Arbeitsweise deutlich wird und die Wirkmacht der künstlerischen Präsenz tatsächlich erlebt werden kann.
Wir betreten das Atelier durch eine hohe Tür, hinter der sich unmittelbar riesige weiße Rollen auftun, die im ersten Moment nicht wirklich eingeordnet werden können. Mehr oder weniger laufen wir also gegen eine Wand. Es macht sich ein recht durchdringender Geruch bemerkbar, der bereits erste Hinweise auf die verwendeten Materialien gibt. Der Geruch nach frischer Farbe, nur ein wenig beißender, gepaart mit gekochtem Leinöl. Nachdem wir uns zur linken Seite, an den großen Rollen und röhrenartigen Gebilden vorbeigedrückt haben – möglichst ohne etwas zu berühren, schließlich wissen wir, dass wir uns im Atelier des Künstlers befinden – stehen wir nach einigen Schritten vor einer offenen, schwarzen Fläche, die sich zur Rechten auftut. Hinter uns, links neben uns und an der gegenüberliegen Seite werden wir Wänden gewahr, die mit großen und kleinen Arbeiten von Davor Ljubičić behangen sind.
Während die Wände größtenteils weiß sind, offenbart sich besagt schwarze Fläche vor uns als von schwarzer Kohle überzogener Boden, deren Staub festgetreten ist, sich in ihrer feinen, pudrigen Beschaffenheit in jede Ritze, jede Erhebung und jeden Millimeter des Ateliers gefressen hat. Wir werden von Davor auch immer wieder darauf hingewiesen lieber nichts auf den Boden zu legen, geschweige denn sich irgendwo anzulehnen, da die Kleidung sonst schwarz und schmutzig werden könnte. Auf dem kohleüberzogenen Boden liegen verstreute Gummihandschuhe, zum Teil angebrochene Farbdosen, Sprühdosen, Tücher; über einer Stuhllehne hängt eine von schwarzer Farbe schon ganz starre Hose, eine große Leiter steht vor der Wand, an der eine der schwarzen Zeichnungen hängt. Der ganze Raum spricht die Sprache des Künstlers, offenbart sich als sein Territorium, ist durchdrungen von seinen Arbeiten und vor allem von den Spuren seines Arbeitens. Während neue Werke gerade trocknen und einzelne Papierbahnen von der Decke und von Holzbalken baumeln, erstreckt sich zu unserer Rechten eine Landschaft aus eben jenen weißen Rollen, die wir beim Betreten des Raumes schon entdeckt haben. Dabei handelt es sich um nichts anderes als eingedrehte Papierbahnen, Arbeiten wie ebenjene, die wir hier im Ausstellungsraum betrachten können, die in ihren unterschiedlichen Größen bestimmt die Hälfte des Raumes einnehmen. Wie ein undurchdringbarer Wald stehen diese Werke säulenartig vor uns und offenbaren die ganze Bandbreite des künstlerischen Oeuvres. „Mein Atelier ist ein Arbeitsraum.“, sagt Davor; keine Kaffeemaschine, kein Scotch, der Besuchern angeboten werden kann, kaum Platz zum Drehen oder Wenden. Der Boden, der Raum, das Environment ist die Palette des Künstlers, die er sich zu Nutzen macht und sich somit jene Bedingungen schafft, die er für die Umsetzung seiner künstlerischen Idee und besonders dem
Ausdruck seiner künstlerischen Existenz, braucht. Davor Ljubičić sagt selbst, er arbeite wie ein Archäologe, der nach und nach Schicht für Schicht abträgt, immer auf der Suche nach etwas weiterem, der nachvollzieht wie sich einzelne Elemente verdichten und somit zum Gegenstand werden, ihre eigene Präsenz bekommen. Wir treten nur vorsichtig auf den schwarzen Atelierboden, in den sich Schicht für Schicht die Jahre seines Schaffens eingeschrieben haben und die umgekehrt in einer archäologischen Arbeitsweise wieder abgetragen und sichtbar gemacht werden könnten.
Davor Ljubičić, der in Kroatien geboren ist, vereinnahmt also seine Umgebung, macht sie sich zu eigen und nutzt sie für seine künstlerische Umsetzung. Auf die gleiche Weise funktionieren seine Werke auch hier im Ausstellungsraum, der vereinnahmt wird und durch die Präsenz der monumentalen Werke lebt. Ob seine Arbeiten dabei als Zeichnungen oder Malereien funktionieren, sei vollkommen irrelevant, sagt der Künstler, der an der Akademie der Bildenden Künste in Sarajevo studierte und seit den 80er Jahren wiederholt Preise für sein Werk gewinnt. Die Wirkmacht und -kraft dieser Arbeiten wird durch seine internationale Ausstellungs- und Sammlungshistorie unterstrichen, wie unter anderem die Präsentation auf der 57. Biennale in Venedig 2017. Seit 1992 ist Davor freischaffender Künstler in Konstanz, jene Stadt, von der er im Jahr 2020 den Kunstpreis verliehen bekam.
Dass die Werke dabei immer wieder ohne Titel stehen, beziehungsweise mit der einfachen Bezeichnung „o.T.“, erklärt der Künstler mit dem Streben nach einem offenen Kunstwerk. Titel könnten zwar dabei helfen ein Werk zu definieren, es einzuordnen und eventuell auch die Betrachtung erleichtern, sie könnten aber auch auf die falsche Fährte locken. Die Kreation des Künstlers müsse nicht immer klar definiert werden oder verbal vermittelbar sein. So verhält es sich auch mit dem Titel dieser Ausstellung, oder viel eher dem „Un-Titel“ dieser Ausstellung, die somit vom Künstler bewusst offengehalten werden möchte, Spielraum für Ihre Gedanken, Eindrücke, Impressionen und Wirkungen lässt. Wenn man so möchte, kann auch die hier präsentierte, installative Kombination von einzelnen Artefakten als ein weiteres Gesamtwerk des vielschichtigen Künstlers verstanden werden.
„Kein Bild ist für die Ewigkeit.“, sagt Davor Ljubičić, der uns seinen eigenwilligen und besonderen Charakter hier in einer raumumgreifenden Ausstellung zeigt, die uns herausfordert, die Dinge, Werke, Artefakte im Zusammenspiel und in ihrer Koexistenz zu begreifen.
Diese vielschichtigen Arbeiten laden uns ein sie zu entdecken, einen genaueren Blick auf sie zu werfen, während sie uneindeutig bleiben und dennoch individuell lesbar sind. Der Künstler fordert unsere subjektive Wahrnehmung heraus; und in diesem Sinne wünsche ich Ihnen nun einen schönen Abend und viel Freude bei der Suche nach den Spuren des Künstlers auf der Bildoberfläche.
– Yala Spiegel, Kunstwissenschaftlerin B.A., Konstanz, 2021
Atelieransicht Davor Lubicic