Angela Murr
- lost lines -
14.04.22 ... 08.05.22
»Calla de Marais« ist der französische Name jener Pflanze, die auf Deutsch Sumpf-Calla, Drachenwurz oder Schlangenkraut genannt wird. Die geschützte Pflanze kommt heute noch in den Vogesen vor. Sie hat die Künstlerin zu einer plastischen, großen Form inspiriert, die sich wie eine Raumzeichnung und Bewegungslinie entfaltet, raumgreifend und beherrschend, und zugleich Freiraum lassend. Gemacht wurde sie 2013 für den Raum der Galerie Intuiti im Pariser Künstlerviertel Le Marais, eine bewusste Koinzidenz im Namen. Die acht Meter lange Stahlskulptur entwickelt sich aus einer sich erweiternden Linie, deren größte Ausdehnung eine übermannshohe Unendlichkeitsschleife bildet, von der aus sie sich in einer selbstreferentiellen Bewegung in eine sich verjüngende Linie von Unendlichkeitsschleifen erhebt. »Lost Calla de Marais« ist im Grunde nichts anderes als eine Linie – eine mit zügiger Hand hingeworfene Abfolge von Schleifen. Gleichzeitig ist sie eine monumentale Skulptur von beeindruckenden Dimensionen in Stahl gearbeitet, die ein großes Raumvolumen zu bestimmen vermag. Sie bildet das Zentrum der Ausstellung „lost lines“ im Kunstverein Nürtingen und ist eine fortlaufende Arbeit, die 2019 als digitaler Zwillinge in den virtuellen Raum überführt wurde und aktuell in Nürtingen wieder ins Reale durch ein erweitertes Raumkonzept in Erscheinung tritt.
Lost Lines
Es freut mich, hier im Kunstverein Nürtingen zur Ausstellung der von mir hochgeschätzten Künstlerin Angela Murr sprechen zu dürfen. Da dies im Rahmen einer Finissage geschieht, bietet sich die Form einer Art Schlussbetrachtung an, einer Reflexion, die Ausschweifungen erlaubt und rückblickend über das hinausweist, was war, was wäre und was ist, also die mäandrierende Form dieser Skulptur aufnimmt, die irgendwo im Nirgendwo beginnt, sich entfernt, verflüchtigt und verliert.
Nun bewegt sich Kunst nie in einem leeren Raum. Die Wahrnehmung dessen, was wir betrachten, wird stets geprägt von jenem Ort, an dem wir stehen und jener Zeit, in der wir leben, so gerne wir auch einen solchen Kontext meiden wollen, und dem allen mittels der Kunst geradezu entfliehen möchten. Lassen Sie uns also gleich zu Beginn versuchen, die Zumutungen der Gegenwart schnell zu verräumen, um der Gegenwart der hier gezeigten Kunst Angela Murrs ihren Raum und ihre Zeit zu geben. Doch dazu muss zuvorderst das benannt werden, was wir bannen wollen. Leider ist es so: Wer von „Lost Lines“ spricht, denkt derzeit nicht unbedingt an künstlerische Prozesse, sondern an verschobene oder gar verletzte Grenzen, an umkämpftes Land vor und hinter den Linien, an Bedrohungen, Verluste und auch deren Folgen. Und das ausgerechnet heute, am 8. Mai, jenem Tag, dem heute so ganz unterschiedlich gedacht wird und der geradezu zynische Umdeutungen erfährt. Es war die von Cervantes geschaffene Kunstfigur des Sancho Pansa, die solcher Art Zynismus zum ersten Mal so wirkungsvoll entlarvte. „Ohne viel Nachdenken weiß dieses kluge Bäuerchen, dass es ein Recht auf Feigheit hat, ebenso wie sein armer edler Herr Don Quichotte die Pflicht zum Heldentum. Aber wer mit Sancho Pansas Augen die Heroik des Herrn betrachtet, sieht unweigerlich den Wahnwitz und die Verblendung des heroischen Bewusstseins“ (Peter Sloterdijk). Ein solch frecher, plebejisch-realistischer Blick auf die Welt ist freilich höchst unangenehm immer für jene, die sich in den Kampf stürzen wollen und so ist stets die Kunst das erste Ziel, wenn es unerwünschte Wahrnehmungen, Ansichten und Einsichten auszuschalten gilt. Auch deshalb war die jüngste Zeit so bedrückend, weil sie ihrem wichtigsten Korrektiv, der Kunst, so wenig öffentlichen Raum und damit Entfaltungsmöglichkeiten bot. Und die Diskussion verschiebt sich jetzt ins Tiefmoralische. Umso dankbarer dürfen wir sein, Angela Murrs Kunst feiern zu dürfen, ihr Werk als Anstoß zu begreifen, über dieses hinauszudenken, und nichts anderes fordert ja solch eine plastische Linie, die sich im Raum verliert.
Lost Lines.
Zu dieser Form hat die sich Künstlerin vom sogenannten Schlangenkraut anregen lassen, der Calle de Marais, benannt nach jenem Künstlerviertel
in Paris, in dessen Herzen, am Place de Vosges, einst Victor Hugo logierte, jener Autor - und übrigens auch Zeichner – der in seinem berühmtesten Werk, dem Glöckner von Notre Dame den Verlust der
mittelalterlichen Stadt bedauert und schalkhaft-schildernd nachzeichnet, was diese verlorene Welt bis in die Gegenwart seiner Zeit bedeutet. Was zurück bleibt, sind allenfalls Hüllen, und auch
diese Linien umschreiben eine solche. „Wie eine Hohlform lässt die Erfahrung des Verlustes die Umrisse dessen erkennen, was zu beklagen ist, hervortreten und nicht selten verwandelt es sich im
verklärenden Licht der Trauer zu einem Objekt der Begierde“ (Schalansky 2018, 14). Manche entwickeln den Wunsch, alles Vergangene wegzuräumen, andere wollen alles noch einmal von vorn beginnen,
zurück zum Anfang, ganz so, als ob es auch für das Leben eine Returntaste gäbe.
„Im Pariser Salon von 1796, im fünften Jahr der Republik, stellte der Architekturmaler Hubert Robert, der den Sturm auf die Bastille ebenso festgehalten hatte (…) wie die Schändung der
Königsgräber in St. Denis, im Palais de Louvre zwei Bilder aus. Eines zeigte seinen Vorschlag für den Umbau des Königspalastes zur Großen Galerie des Louvre – einem dank gläserner Dächer ebenso
gut beleuchteten wie besuchten Saal voller Gemälde und Plastiken – das andere Bild denselben Raum als zukünftige Ruine. Dort, wo auf der einen Zukunftsvision das Oberlicht zu sehen ist. Gibt die
andere den Blick auf einen bewölkten Himmel frei: Das Deckengewölbe ist eingestürzt, die Wände kahl und nackt, am Boden liegen zerbrochene Skulpturen“ (Schalansky 2018, 19f)). Lost Lines. Die Ruine als Ort, in dem sich Geschichte und Zukunft begegnen. Wohin schraubt sich unsere Linie? Welche Verluste müssen wir beklagen? Nicht immer
verlangen freilich „die Furien des Verschwindens unser (…) Bedauern“ (Köhler 2007). Und dennoch erzeugen gerade die alltäglichen Verluste ein Potential an Melancholie, das wir ihnen zu jener
Zeit, als sie uns noch begleiteten, gar nicht zugetraut hätten. Lost Lines. Erst ihr Verschwinden macht uns den Verlust bewusst. Das ist wie mit den Eisblumen, „jener Membran zwischen drinnen und draußen“, jenem „Spitzenvorhang vor der Welt, und von der Welt gemacht. Unbegreiflich, überirdisch schön und
filigran, und in den Mustern alle Regelmäßigkeit, und doch vom Zufall diktiert. (…) Am Fenster stehen und in die erstarrte Landschaft schauen (…) Hauchen und den Fleck verschwinden lassen (…)
Vielleicht gehen die meisten Wunder so zugrunde: beiläufig und nebenbei“ (Elke Schmitter, du 782).
Das Verschwinden macht uns etwas wertvoll, lässt uns seinen Wert erkennen, reißt eine Lücke, und dennoch sind wir dem Verschwinden ausgesetzt,
müssen den Dingen wie den Menschen ein Recht auf ihr Verschwinden zugestehen. Es macht uns die Präsenz, das Dasein erst bewusst. Insofern beschreiben
die Lost Lines nicht nur Verluste, im Gegenteil, sie eröffnen neue Perspektiven, fordern zum Turnen auf durch Zeit und Raum, und an die metallenen
Linien darf man sich durchaus klammern, sie bieten Halt ohne zu binden, zeigen zugleich mehr, verbergen nichts, sind uns Gesellschaft, die sich zum Augenschmaus anbietet und doch mehr ist.
Lost Lines entlehnt sich vor allem einer Spur, einer zügig mit der Hand hingeworfenen Linie, einer Abfolge von Schleifen, die sich als Stahlskulptur manifestiert, dabei zugleich zu schweben
scheint, alles andere als an einen festen Ort gebunden. Wenn wir heute Spuren hinterlassen, dann vor allem im virtuellen Raum, im Netz und so ist es mehr als folgerichtig, dass die Künstlerin
digitale Zwillinge im virtuellen Raum erzeugte, die dort ihren ganz eigenen Weg beschreiten dürfen. Wie diese einer Pflanze nachempfundene Form im globalen sozialen Raum sich fortpflanzt und
bestehen wird, ob vergänglich oder dauerhaft, das hängt allein von denen ab, die diese Kunst mittels ihres Interesses pflegen, hegen, achtsam und hingebungsvoll schätzen und betrachten. Sprich:
kultivieren. Wir also sind gefragt und ich wünsche der Künstlerin und ihrer Kunst deshalb auch in Zukunft viele Freunde, damit sie uns weiterhin mit ihrem Werk beglücken kann.
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!
(Martin Oswald, Mai 2022)